Kontext
Kunstschaffen gilt gemeinhin als einsames Geschäft. So schildert die polnische Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk das Schreiben eines Romans als „in sich selbst sein, in einer Einpersonenzelle, in völ-liger Einsamkeit” (Unrast, 2009, S. 20). Das gilt für die Musik nicht minder als für die Literatur. Einige Ausnahmen von Gemeinschaftswerken bestätigen die Regel: im 19. Jahrhundert zum Beispiel die F.A.E.-Sonate (1853), im 20. Jahrhundert die Jüdische Chronik (1960) und die gemeinsamen Produkti-onen von Iris ter Schiphorst und Helmut Oehring, im 21. Jahrhundert das Social Composing von Bri-gitta Muntendorf u. a. (um nur einige Beispiele zu nennen).
Dass dies nicht so sein und bleiben muss, sondern dass auch Komponieren als ein demokratischer Prozess angelegt und durchgeführt werden kann, bei dem mehrere Komponistinnen und Komponisten Hand in Hand arbeiten, diese Idee bildet den Ausgangspunkt des Projektes Kollaboratives Komponie-ren. Und die Entwicklung eines methodischen und medialen Settings, das Zusammenarbeit im kompo-sitorischen Bereich auf künstlerisch sinnvolle und transparente Weise ermöglicht, antwortet nicht zu-letzt auf die Tatsache, dass es bei den bestehenden Mehrautorenwerken kaum Dokumente gibt, die über die Art und das Ausmaß gleichberechtigter Interaktion Auskunft geben, die während der Kompositi-onsperiode zwischen den Beteiligten stattgefunden hat. Dies aber ist eine überaus spannende Frage im Zwischenfeld von Kunst und Wissenschaft, sprich künstlerischer Praxis und Forschung (ohne dem Kunstschaffen sein Geheimnis und dem Werk den Rätselcharakter nehmen zu wollen).
Digitale Technologien und das Internet haben neue Methoden für kollaboratives Komponieren ermöglicht. Ein Modell und ein Projekt, das die künstlerischen und wissenschaftlichen Qualitäten eines kollaborativen Kompositionsprozesses zu vereinen versuchte, wurde 2018 von Kosmas Giannoutakis entwickelt und organisiert. Dafür wurde ein Framework entwickelt, das die Zusammenarbeit zwischen mehreren KomponistInnen über das Internet ermöglichte und die gemeinsame Erstellung einer Komposition für Instrumentalmusik ermöglichte. Der kollaborative Prozess war in drei Phasen unterteilt: eine Kompositions-, eine Revisions- und eine Auswahlphase. In der Kompositionsphase wurde ein erster Entwurf der Partitur iterativ erstellt. In jeder Iteration schlug jeder Komponierende ein neues Partiturfragment vor, und nach einem Abstimmungsprozess wurde ein einzelnes Fragment ausgewählt und in den Partiturentwurf aufgenommen. In der Überarbeitungsphase schlug dann jede/r nacheinander Änderungen des Partiturentwurfs vor, während die Übrigen diese überprüften. Nach Mehrheitsabstimmung wurde festgestellt, ob eine vorgeschlagene Änderung angenommen oder abgelehnt wurde. Das Modell wurde von einer international ausgewogenen Gruppe von acht KomponistInnen realisiert, die mit Hilfe von ModeratorInnen eine Komposition für Solovioline schufen. Die endgültige Komposition erreichte nach Meinung aller Teilnehmenden einen relativ hohen Grad an Kohärenz.
Ziel des Projektes und Methodologie
Basierend auf den ermutigenden Erfahrungen, die im Pilotprojekt gesammelt werden konnten, findet das vom Ensemble Aventure beantragte Projekt in einem erweiterten Rahmen statt, das die kollaborative Komposition von Kammermusik ermöglicht. Ziel ist es, die künstlerischen und kommunikativen Potenziale gemeinsamen Komponierens von Musik auszuloten, zu einem gemeinsamen Ensemblewerk zu führen und dies möglichst vielen MusikerInnen und Musikbegeisterten (zunächst) in Baden-Württemberg vorzustellen und zur Diskussion zu stellen.
Das kollaborative Modell wird dahingehend erweitert, dass mehrere Rückkoppelungen in den verschiedenen Phasen der Komposition eingezogen werden (Konzeption, Mikro- und Makrostrukturentwicklung, Revision). Die studentischen KomponistInnen werden als Gruppe so organisiert, dass sie durch professionelle Betreuung (Kompositionslehrer, Ensemblemusiker), Moderation und mit Hilfe von Web-Tools befähigt werden, ihre kompositorischen Aktivitäten zu koordinieren und eine zusammenhängende Ensemblekomposition zu schaffen. Auf jeder Stufe und am Ende der gesamten Schaffensperiode werden die KomponistInnen und InstrumentalistInnen gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, anhand dessen sie Kommentare abgeben, die eingereichten Fragmente und die endgültige Komposition bewerten, ihre Erfahrungen im Projekt beschreiben und weitere Verbesserungen vorschlagen können. Diese Informationen werden zusammen mit den aufgenommenen Daten (eingereichten Bewertungen, Länge der Fragmente, Zeitintervalle zwischen den Einreichungen), die während des Kooperationsprozesses erstellt wurden, ausgewertet. Basierend auf dieser Analyse werden verschiedene Schlussfolgerungen über die kollaborative Dynamik und die Effizienz des Modells gezogen. Diese werden mit den im vorherigen Projekt beobachteten Phänomenen verglichen.
Zeitrahmen und Teilnehmende
Das Projekt wird vom Ensemble Aventure in Zusammenarbeit mit den Musikhochschulen Freiburg, Karlsruhe, Mannheim und Stuttgart im Zeitraum Juni 2021 bis Dezember 2021 organisiert. Vier Kompositionsstudierende werden von den Kompositionsprofessoren Johannes Schöllhorn, Markus Hechtle, Martin Schüttler und Sidney Corbett an den entsprechenden Musikhochschulen für das Projekt ausgewählt und zusammen mit den Ensemblemusikern betreut. Mehrere Koordinations- und Erprobungstreffen begleiten den Prozess. Die entstandene Komposition wird vom Ensemble Aventure an den vier Hochschulstandorten (ur-)aufgeführt und zur Diskussion gestellt. Eine Dokumentation des künstlerischen Prozesses sowie die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Projekts sollen im Internet und in einschlägigen Fachzeitschriften als Beispiel für mögliche Folgeprojekte veröffentlicht werden.
Die beteiligten Partner sind:
– Der Komponist Kosmas Giannoutakis als Moderator und Forscher
– Mariachiara di Cosimo – Studentin von Prof. Sidney Corbett an der MHS Mannheim
– Elina Lukijanova – Studentin von Prof. Markus Hechtle an der MHS Karlsruhe
– Dimitrios Stavrou – Student von Alexander Grebtschenko an der MHS Freiburg
– Brandon Snyder – Student von Prof. Martin Schüttler an der MHS Stuttgart
– Aventure-MusikerInnen: Andrea Nagy, Klarinette – Wolfgang Rüdiger Fagott – Nicholas Reed, Schlagzeug – Akiko Okabe, Klavier – Katharina Schmauder, Viola.